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"Lebendige Demokratie" – Eine Matinée zum 60. Grundgesetz-Jubiläum bei Bundespräsident Köhler

Rund 100 Jugendliche, davon 30 aus aktuellen Best-Practice-Projekten des Förderprogramms "Demokratisch Handeln", die anderen aus der Sonderausschreibung "Demokratie MitWirkung" des Geschichtswettbewerb um den Preis des Bundespräsidenten der Hamburger Körber-Stiftung, waren am 20. Mai nach Berlin in den Amtssitz des Bundespräsidenten, Schloss Bellevue, eingeladen. Dass die Feiern für das Jubiläum der unbestritten erfolgreichen bundesdeutschen Verfassung nicht nur Sache der politischen Institutionen und der Besucherinnen und Besucher der beiden Festtage in der Bundeshauptstadt sein konnte, ist unmittelbar einsichtig. Beschäftigen sich doch die beiden Schülerwettbewerbe mit Nachdruck damit, schulisches Lernen um erfahrungsnahe Einsicht in die besondere demokratische Qualität unseres Gemeinwesens anzureichern. Die Schule umgekehrt ist nicht nur per Gesetz, sondern auch in Blick auf ihre zentrale Funktion in der modernen Gesellschaft – in der sie ausnahmslos allen Kinder und Jugendlichen in relativ langer Zeitausdehnung und während deren prägenden Entwicklungsphase begegnet – die Instanz schlechthin, die erzieherisch in das Sozialbewußtsein, die Selbstkonzeption und letztlich auch die Vorstellung von Freiheit und Verantwortung, von Politik und Demokratie der Kinder und Jugendlichen einwirkt, sie also politisch (möglichst und hoffentlich für die Demokratie) sozialisiert. Die Matinée bot ein dichtes und anregungsreiches Programm und gleichwohl in Anschluss an daran noch vielfältige Gelegenheiten zum Gespräch, die auch Bundespräsident Horst Köhler nutzte.

Gespräche, Projekte und prominente Partner

In drei Gesprächsrunden wurden wichtige Dimensionen lebendiger Demokratie mit eigenen Jugendprojekten vorgestellt und in prominent besetzten Runden diskutiert: Der Jugendlandtag Nordrhein-Westfalen, das Integrationsprojekt "Anti-Gewalt-Fussballturnier" der Berliner Carl-von-Ossietzky-Oberschule sowie Bürgerinitiative "Gegen die Stationierung von Kampfhubschraubern in Prenzlau" waren die thematischen Bezugspunkte. Parlamentarische Verfahren, die Aufgabe, mit kultureller und ethnischer Vielfalt toleranzorientiert und ohne Gewalt umzugehen sowie die bürgergesellschaftliche Tradition vieler Bevölkerungs-gruppen in der ehemaligen DDR bildeten ein beziehungsreiches Aufgabendreieck. Tagesthemen-Moderatorin Caren Miosga leitete umsichtig die drei Gesprächsrunden, die noch durch eine Eingangsrunde mit Bundespräsident Horst Köhler und dem Vorstandsmitglied der Körber-Stiftung, Lothar Dittmer sowie einem Schlussausblick des Bundespräsidenten gerahmt worden sind.

Der Jugendlandtag in Düsseldorf

Der "Jugendlandtag NRW" – übrigens eine Parlamentarismus-initiative, die von den Düsseldorfer Landtagsabgeordneten veranlasst worden ist – wurde von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit Engagement ausgefüllt und war zwar eine Simulation, gleichwohl dennoch mehr als lediglich ein Rollenspiel: Es wird von zwei Anträgen berichtet, die Einfluss auf die Politik hatten. Zudem haben die Jugendlichen Themenschwerpunkte auf die Bildungspolitik, v.a. auf die Frage der Schülerpartizipation durch die SV gelegt. Das Jugendparlament, so die These der Geschäftsführerin des NRW-Landtags, "ermögliche so etwas wie realistische Einsicht". Rita Süßmuth, langjährige Bundestagspräsidentin, kommentierte diese Initiative mit Einsichten dazu, wie man eine parlamentarische Tradition begründen und lebendig erhalten könne. Sie verwies auf die lange Geschichte der Emanzipation von Frauen gerade im Parlament – letztlich auch noch in der Geschichte des Deutschen Bundestages und insistiert auf das anhaltende Gestaltungspotenzial des Politischen in der Demokratie: "Wir können nirgendwo soviel verändern wie in der Politik".

Gegen Kampfhubschrauber und Atomwaffenstationierung in der DDR

Die Preisträgerin des Körber-Wettbewerbs "Demokratie mit Wirkung" Sarah Grankde erforschte die Geschichte der "Bürgerinitiative Gegen Kampfhubschrauber in Prenzlau". Dabei handelt es sich um eine der Bürgerinitiativen in der Endphase der ehemaligen DDR, die damit begonnen hatten, sich gegen die immer wiederkehrende Nachrüstungen der sowjetischen Armee zu wehren. Das hatte einen Impuls insbesondere auch in Blick auf die damit verbundene Lagerung zahlreicher Atomsprengköpfe in der Nähe zur eigenen Stadt. Natürlich war die Furcht vor der Eskalation der militärischen Abschreckungsspirale zwischen Ost und West eine Triebfeder des Engagements. Gleichwohl war der offene Widerstand gegen den militärisch-politischen Komplex der ehemaligen DDR eine besondere Herausforderung und zeugt von politischem Mut und Zivilcourage. Zu Gast war einer der Aktivisten dieser frühen ostdeutschen Bürgerinitiative, Peter Bühlow, der eindringlich die Ausgangslage für das Bürgerengagement beschrieb. Welchen Mutes es bedurfte, in einer Diktatur gerade auch gegen die Rüstungspläne der sowjetischen Armee einzuschreiten, das wurde in diesen Erzählungen auf plastische Art anschaulich.

Joachim Gauck, früherer Bundesbeauftragter für die Stasi-Akten und bürgerengagierter Pastor gab Anschauung und Einblick in die innere und äußere Situation der Menschen, die freiheitshungrig waren, aber "nicht der Freiheit hinterherlaufen wollten", wie er ausdrückte, sondern in ihrer Heimat diese Freiheit leben wollten. Die Voraussetzung und Kehrseite des Mutes war, so Gauck, ein direkter und distanzierter Umgang mit der Bedrohung und der dabei entstehenden eigenen Angst, von der "man sich jedoch nicht anstecken lassen darf", wenn man die Zivilgesellschaft stärken wolle. 

Spielerisch Toleranz praktizieren und schulen

Seitens des Förderprogramms "Demokratisch Handeln" war das "Anti-Gewalt-Fussballturnier" der Berliner Carl-von-Ossietzky-Oberschule zu Gast. Dessen Initiator, der vormalige Schülersprecher Mohammed El-Asmer, hat plastisch die Motivation für dieses schulbezogene Unternehmen umrissen: "Wir wollten einfach auch die gute und freundschaftliche Stimmung des WM-Sommers mitnehmen", so Asmer. Gleichwohl ging es um alles andere als nur um Fussballvergnügen. Die SV der Schule hat ihrer Schülerschaft eindrücklich die Rahmenbedingungen des fair-play nahegebracht und dabei Standards wechselseitigen Respekts und gleichberechtigten Umgangs miteinander gesetzt. Ein beispielhaftes Detail des Unternehmens: Türkische Mädchen spielen ebenso mit wie deutsche Jungs.

Dass dieses auf kulturelle und religiöse Integration zielende Projekt sich hat verstetigen lassen, ließ sich an der Präsenz des neuen Schulsprechers erkennen, der das Projekt energisch weiterverfolgt. El-Asmer betont den spielerischen Zugang zum ernsthaften Umgang miteinander, der positive Erlebnisse zeitigt und deshalb gewaltpräventiv wirken kann: "Fußball ist Spaß und ein Anlass, um Regeln und Normen des Umgangs selbst zu etablieren", so der pragmatische ehemalige Schulsprecher tunesischer Herkunft, der inzwischen bei der Bundeswehr seinen Wehrdienst ableistet.

Pragmatismus und Demokratiepolitik

Hildegard Hamm-Brücher, die inzwischen 88-jährige freiheitsbewußte Liberale, die vor Jahren ihrer politischen Heimat in der FDP den Rücken gekehrt hat, wusste diese spielerische Form der praktizierten Toleranz wohl zu schätzen. "Alles, was ganz pragmatisch und gegenwärtig für ein konstruktives Miteinander in Toleranz und Vielfalt getan wird, ist hilfreich", so ihr Credo. "Demokratie ist immer von solch gegenwartsbezogener und alltagsnaher Umsetzung geprägt, wenn sie als Lebensform Vernunft und Herz der Menschen gleichzeitig erreichen soll", warnt die Zeitzeugin der politischen Vita unserer Bundesrepublik und der deutscher Wiedervereinigung zugleich eine Politik, die das Interesse und auch den Widerspruch ihrer Bürgerschaft gegen das politische Establishment bisweilen nicht so richtig zu würdigen weiß. "Wir benötigen nicht nur Parteipolitik", so ihr stetig wiederholtes Credo an eine Demokratie, die sich selbst zum Erhalt und zur Förderung ihrer Wertschätzung in der Gesellschaft verpflichtet sein sollte, "sondern vielmehr eine Demokratiepolitik, die Mittel, Zeit und v.a. Anerkennung für Engagement und Partizipation der Bürgerinnen und Bürger bereit hält – das gilt besonders auch für Kinder und Jugendlichen, die dies tun und wollen und hier hineinfinden können", gibt sich die erfahrene langjährige Parlamentarierin unnachgiebig. "Ein Parteienstaat, der nicht auch in der Wertschätzung der breiten Masse seiner Bürgerinnen und Bürger verankert ist, entfremdet sich von seinem Zweck, in dem die Parteien doch kraft Verfassung nur Teil der politischen Willensbildung sind und nicht ihr Dreh- und Angelpunkt", ist Hamm-Brücher überzeugt.

Der Bundespräsident, der erste Bürger unserer Gesellschaft

Hildegard Hamm-Brücher – die aus ihren Sympathien für eine Fortführung der Präsidentschaft Horst Köhlers in einer zweiten Amtszeit keinen Hehl machte – schätzt an der Veranstaltung und der Gesprächsfreude Horst Köhlers die darin liegende Nähe zur Bürgerschaft und gerade auch der Jugend unserer Republik. Die Demokratie könnte zweifelsohne, so Hamm-Brücher, ein Hauptthema einer weiteren Amtszeit des Bundespräsidenten sein. Man darf gespannt sein, ob sich der inzwischen im Amt bestätigte erste Mann in unserem Staat auf diese Linie einlassen wird. Denn, daran lässt Hamm-Brücher keine Zweifel, die Demokratie sei zwar stabil in Deutschland, keinesfalls aber gesichert. Unterstützung für ihr zivilgesellschaftliches Credo bekam Hamm-Brücher auch von Joachim Gauck, der die eigene Erfahrung des politischen Wandels in der ehemaligen DDR als einschneidendes Erleben charakterisiert: "Die Verwandlung von Ohnmacht zur Bürgergesellschaft begründet Liebe zur Freiheit", so der Rostocker Pastor, der den Gewinn des politischen Wandels unverdrossen den neuen nostalgisch-ostalgischen Sehnsüchten entgegenstellt.

Alle Beteiligten dieser Matinée suchten beim anschließenden Empfang intensive Gespräche und hinterließen den Eindruck, dass es um die Demokratie in Deutschland und um die Bindung Jugendlicher an diese Verfassung und ihre kulturelle Welt doch nicht so schlecht bestellt sein kann, wie immer wieder gemutmaßt wird. Nun waren natürlich hier die bereits Überzeugten zu Gast. Doch Horst Köhler ließ auch keinen Zweifel daran, dass weiterhin Überzeugungsarbeit geleistet werden kann und werden muss: "Junge Leute müssen wir ernst nehmen und an unserer Demokratie beteiligen, wir müssen ihnen Räume lassen, wie es dieses Projekte und Beispiele hier überzeugend gezeigt haben", so sein bilanzierendes Lob.  

(Wolfgang Beutel, 10.06.2009, Berlin/Jena)

 
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