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"Ein erstaunliches Abstimmungsverhalten"

Berliner Schülerinnen und Schüler simulieren den Alltag im Europäischen Parlament und entdecken die Mechanismen der Parteipolitik

Bis auf den letzten der rund 20 Plätze füllt sich der Seminarraum 101 der Friedrich Ebert Stiftung. Gespannt und teils nervös warten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf den Beginn des Workshops „Nachwuchseuropäer im ‚Trainingslager’ für die EU – ein Simulationsspiel“. Noch ahnen sie nicht, dass es bald zu lebhaften Diskussionen kommen wird.

Das EU-Parlament - ein unbekanntes Wesen

Christopher Lucht vom Verein „Perspektive Europa“ begrüßt die sehr heterogene Teilnehmergruppe, mit Schülerinnen und Schülern von der 7. bis zur 12. Klasse. In den kommenden zwei Stunden wird er in seinem Workshop verschiedene Simulationsspiele zum Thema EU-Politik vorstellen und anschließend in Kurzform die Projektgruppe selbst in die Rolle von EU-Parlamentariern versetzen. Zunächst fragt Lucht wem Berliner Abgeordnete des Europaparlaments namentlich oder gar persönlich bekannt seien? Bis auf die im Teilnehmerinnenkreis anwesende Politiklehrerin fallen niemand ohne „Nachhilfe“ Namen ein. Der Dozent nimmt es gelassen und zeigt anhand eines Beispiels, dass es derzeit fast 30 verschiedene Verfahren gibt, nach denen im EU-Parlament Gesetzestexte verabschiedet werden, wer soll da als Laie noch den Durchblick behalten?

Verschiedene Simulationen, ein Ziel: Europapolitik verständlich machen

Ähnlich kompliziert gestaltet sich die Arbeit der EU-Parlamentarierinnen und Parlamentarier und genau deshalb seien Simulationsspiele besonders geeignet, die parlamentarische Arbeit für Schüler transparenter zu machen, erklärt Christopher Lucht. Im ersten Drittel des Workshops stellt er verschiedene Simulationsspiele im Detail vor, die den Berliner Schülerinnen und Schülern offen stehen. Die einzelnen Ansätze unterscheiden sich dabei deutlich in ihrer Komplexität. Als bekanntestes Simulationsspiel genießt das „Europäische Jugendparlament“ regelmäßiges Medieninteresse. Teilnehmen daran dürfen Schülerinnen und Schüler im Alter von bis zu 22 Jahre. Durch einen bundesweiten Wettbewerb, an dem sich jährlich rund 70 Schulen beteiligen, werden Delegierte gewonnen, die erst auf nationaler Ebene und einmal im Jahr auch international an der Simulation einer EU-Parlamentssitzung teilnehmen dürfen. Da sich 30 Länder am Projekt beteiligen, ist der Reiz besonders groß zur internationalen Parlamentssitzung eingeladen zu werden. Allerdings gelingt dieser Schritt pro Land nur acht Delegierten. Insofern zählt diese Simulation eindeutig zur „Champions League”. Alle Debatten finden dabei auf Englisch statt, die einzelnen Teilnehmer nehmen reale Rollen als nationale Abgeordnete der im EU-Parlament vertretenen Parteien ein.

Im „Modell Europa Parlament“ hingegen kooperieren 16 Schulen aus allen Bundesländern miteinander und entsenden einmal jährlich Delegierte zu einer fiktiven EU-Parlamentssitzung. Auch hier werden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern feste Rollen zugewiesen: Parteizugehörigkeit, Fraktionszwang und nationale Interessengegensätze lassen sich so spielerisch darstellen. Einen Schritt weiter geht die Simulation des „Informationsbüros des Europäischen Parlaments“. Hier simulieren bis zu drei Schulklassen den Alltag im EU-Parlament über zwei Tage. Das Besondere: neben parteipolitischer Zugehörigkeit übernehmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch erweiterte Funktionen, wie die des Ministerrates der EU, besetzten die Europäische Kommission und treten als Lobbyisten bzw. Journalisten auf und versuchen so, die Meinungsbildung aktiv zu beeinflussen. Hierbei liegt der Schwerpunkt der Simulation darauf, die Vernetzung und die Abhängigkeiten einzelnen Institutionen und parlamentsnaher Gruppen aufzuzeigen.

Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung beteiligt sich mit dem Projekt „Meet Europe“ an einer transparenten EU-Politik. Teilnehmer sind hier Schülerinnen und Schüler der Oberstufe, die sich Schulweise beteiligen können. In einer Auftaktveranstaltung erklären die Lehrerinnen und Lehrer den Ablauf des Simulationsspiels. Jede teilnehmende Schule bekommt die Rolle eines Akteurs zugewiesen, bspw. die eines Landes, das in die EU aufgenommen werden möchte. In Verhandlungen mit den übrigen Akteuren (EU-Ministerrat, EU-Kommission, EU-Parlament), muss nun die eigene Position strategisch geschickt vertreten werden. Zunächst geschieht dies per Mail, später im direkten Chat. Zum Ende gilt es auf einer Abschlusskonferenz persönlich in der Diskussion mit den anderen Teilnehmer/innen zu überzeugen.

Zum Abschluss seines Überblicks zum Thema EU-Simulationen stellt Christopher Lucht noch die „Simulation Europa Parlament“ (SIMEP) vor. Das Strategiespiel steht in Berlin allen Schülerinnen und Schülern der 11. und 12. Klassen offen. Dabei bereiten sich die einzelnen Gruppen auf Fragen aus der realen EU-Politik vor, bspw. Beschlüsse zu neuen EU-Richtlinien. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehören einer EU-Nation und ihrer jeweiligen Partei an, so dass die Rollen klar an den parlamentarischen, wie auch (inter-)nationalen Konfliktlinien ausgerichtet sind. In einer zweitägigen Konferenz diskutieren die einzelnen Parlamentarier dann ihre Entwürfe und versuchen Mehrheiten zu organisieren. In Berlin nehmen jährlich rund 140 Schülerinnen und Schüler an der Veranstaltung der Jungen Europäischen Bewegung teil.

Taktieren in Selbstversuch: EU Politik am eigenen Leib erfahren

Nach so viel geballter Information sind die Workshopteilnehmerinnen und Teilnehmer selbst gefragt. Denn natürlich lässt es sich der Dozent nicht nehmen, eine kleine EU-Simulation auf Basis der SIMEP-Konzeption abzuhalten. Die verbleibende Zeit reicht leider nur noch für eine abgespeckte Version. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden gleichmäßig auf die vier Parteien Konservative, Liberale, Sozialdemokraten und Grüne verteilt. Als Aufgabe gilt es, innerhalb der einzelnen Fraktionen Standpunkte zu zwei Fragestellungen zu entwickeln:

  1. Sollte ein EU-Verfassungsvertrag zwingend vor dem Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei geschlossen werden oder soll ein Beitritt auch ohne EU-Verfassung möglich sein?
  2. Sollten in Zukunft auch die Bürger der EU per Referendum über die Aufnahme neuer Länder in die Gemeinschaft entscheiden dürfen?

Alle Parteien müssen zunächst jeweils eine Parteivorsitzende und einen AG-Sprecher zum Sachthema benennen. Zunächst erfolgten die Diskussionen innerhalb der eigenen Fraktion. Zwischenzeitlich lädt Dozent Lucht in seiner Rolle als Parlamentspräsident die Fraktionsvorsitzenden samt den AG-Spechern in kleiner Diskussionsrunde zu sich. Im Anschluss gilt es, in der eigenen Fraktion die Position der anderen zu referieren und bereits vorab Kompromisslösungen zu Erörtern.

Große Diskussionen – überraschende Abstimmungen

Schließlich trifft man sich im Parlamentsplenum. Die Parteivorsitzenden eröffnen die Diskussionen, wie zu erwarten mit eher polemisierenden Beiträgen. Im Anschluss haben die vier AG-Sprecherinnen das Wort und tragen die Positionen der jeweiligen Fraktion vor. Danach ruft Lucht zur offenen Diskussion aller Abgeordneten auf, wobei naturgegeben heftige Diskussionen über Für und Wider aller Positionen entbrennen. Nach rund zehn Minuten, die Zeit drängt, wird zur Abstimmung über beide Fragen gerufen. Einigkeit besteht bei der ersten Fragestellung, eine deutliche Mehrheit will den Verfassungsvertrag vor einer möglichen Aufnahme der Türkei in die EU. Bei der zweiten Entscheidung kommt es erstaunlicherweise zu einem Patt. Dies obwohl nach der Position der Fraktionen eine Bürgerbeteiligung eigentlich nicht mehrheitsfähig gewesen wäre. Einige Abgeordnete votierten in der Frage gegen die eigene Fraktion, ein überraschendes Ergebnis, zumal Liberale, Grüne und Teile der Sozialdemokraten bei diesem Thema große Schnittmengen entdeckten, unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Überraschungen gehören ja manchmal auch zu Europa. So endet nach rund zwei Stunden ein spannender und informativer Workshop mit viel Applaus der Teilnehmerinnen und Teilnehmer für den Dozenten.

(Dirk M. Oberländer, Berlin)

 
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