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"Wir haben losgelegt!" - Dritte regionale Lernstatt Berlin

Italienische Begeisterung und deutsche Winter – Eine Reportage aus der Kooperationsveranstaltung „Wir haben losgelegt“ in der FES Berlin

„Facciamo“ –  „Un giornale“ – „Qui explica“ – „La democrazia!“ Es ist Freitagmorgen in der Friedrich-Ebert-Stiftung im Berliner Botschaftsviertel und auf den Straßen tasten sich die Menschen voran, denn seit Tagen herrschen in der Hauptstadt „alpine Verhältnisse“, wie Wolfgang Beutel, der Geschäftsführer von Demokratisch Handeln, das nennt. In tiefwinterlicher Atmosphäre werden hier heute dreißig Projekte aus Berlin für ihren Einsatz für eine demokratische und faire Gesellschaft ausgezeichnet: Da gibt es die Gruppe, die eine Gedenkfahrt nach Auschwitz unternommen hat oder die Kiez-Buddys, die zwischen zwei befeindeten Schulen vermitteln oder den Mädchentreff „Dünja“, in dem türkische und deutsche Mädchen Hausarbeiten machen und reden können oder den „Rosenfelder Ring“, einen Jugendtreff im Brennpunktviertel Marzahn-Hellersdorf oder oder oder ... .

Auffällig ist, dass alle Alters- und Schulstufen vertreten sind: Von den Grundschülern bis zu den Abiturienten. Und nicht nur das: Die Kinder und Jugendlichen werden von ihren erwachsenen Helfern begleitet, von Lehrerinnen und  Streetworkern, die hier aber nicht die Rolle der Allwissenden spielen, sondern vielmehr gleichberechtigte Partner sind. Bei so vielen unterschiedlichen Menschen ist eine Vorstellungsrunde geboten, um „das Eis zu brechen“. Die Moderatorin Kathrin Hölsche fragt in die Runde: „Wer hat über Umwelt gearbeitet? Wer hat sich mit der deutschen Vergangenheit auseinandergesetzt? Wer hat antirassistisch gearbeitet?“ Nach jeder Frage gehen neue Arme in die Luft und immer stellt sich eine neue Gruppe vor. Das geht so schnell, dass man sich die Namen und Themen und Projekte schon bald nicht mehr merken kann, so viele sind es. Doch manche bleiben haften, sind besonders eindringlich in ihrem Thema und ihrer Vorstellung! Zum Beispiel die vier Mädchen der Finow-Grundschule aus Kreuzberg, die uns im italienischen Chor verraten, warum sie dabei sind: „Facciamo un giornale qui explica la demokrazia – Wir machen eine Schülerzeitung, die Demokratie erklärt.“

Demokratie ist überhaupt das Wort des Tages, wir begegnen ihm immer wieder. Doch was ist das eigentlich, Demokratie und wie funktioniert sie? In der Eröffnungsrunde versuchen sich die Rednerinnen und Redner an Antworten. Zum Beispiel in der Debatte um die Kinderrechte, die zwar 1989 von den Vereinten Nationen beschlossen wurden, deren Umsetzung aber noch große Defizite aufweise. Doch Demokratie sei auch mehr und anderes als offizielle Politik. Dem kann Reinhold Reitschuster von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport nur zustimmen. Zwar habe Demokratie immer auch mit Partei, Regierung und Parlament zu tun – doch das sei eben nur die eine Hälfte. Denn ein „Irrtum“ sei es, zu glauben, eine demokratische Gesellschaft sei selbstverständlich. Vielmehr sollten wir sie als ein kostbares und verletzliches Gut begreifen, das immer wieder neu verteidigt und errungen werden muss: gegen die Verächter der Demokratie und ihre Drohungen. Demokratie ist deshalb für den Staatssekretär der unablässige Auftrag, sich für die Bewahrung der demokratischen Gesellschaft einzusetzen. Das sei keine leichte Sache, dazu brauche man Entschlossenheit und Mut und die zu fördern sei ja gerade eines der Ziele von Organisationen wie Demokratisch Handeln oder der Bund-Länder-Kommission zur Bildungsplanung mit ihrem Projekt „Demokratie lernen und leben“, das ja von „Demokratisch Handeln“ viele Anregungen erhalten habe. Damit diese Projekte Erfolge hätten, sei es wichtig, fügt Husung hinzu, dass Theorie und Praxis, offizielle Politik und individuelles Engagement „von unten“ zusammengehen und verbunden würden. Auch für Wolfgang Beutel, den Geschäftsführer von Demokratisch Handeln, ist „Demokratie kein schwarzes Kästchen, das einfach an der Wand hängt und funktioniert“. Man könne sich nicht damit zufrieden geben, Grundrechte einfach nur „zu haben“, denn Rechte seien nur dann etwas wert, wenn man sie auch in Anspruch nähme. Demokratie ist eben kein Zustand, sondern Tun und Handeln! Und das sei keine Frage des Alters, schließlich würde gerade die große Beteiligung von Grundschulen zeigen, dass Engagement für Demokratie bereits in jüngsten Jahren beginnen könnte.

Was bleibt als erstes Fazit der Eröffnungsrunde? Demokratie ist weit mehr als offizielle Politik. Ja, es ist sogar umgekehrt: Nur dann, wenn es viele einzelne demokratische Initiativen und Engagements gibt, kann auch die offizielle Politik der Regierungsentscheidungen und Wahlurnen funktionieren. Die offizielle Politik gleicht der Spitze eines Eisbergs, der von Projekten wie jenen getragen wird, die sich heute in der Ebert-Stiftung treffen.

Projektrundgang

Als nächstes ist die Begehung der „Ausstellung“ angesagt, auf der sich die einzelnen Projekte vorstellen. Doch davor noch: die Barber-Shop Boys von der „John F. Kennedy“-Schule. Das sind vier schnieke Gymnasiasten, gkleidet im Stil der 1920er-Jahre: schwarze Hose, rosa Hemd, dunkle Fliege. A-Capella, mit glasklarer Stimme, geben sie „some legendary songs“ zum Besten. Spätestens mit Disneys Dschungelbuch-Klassiker „The lion sleeps tonight“ haben sie das Publikum gewonnen: Großer Jubel, anerkennendes Pfeifen und hier und da sogar vereinzeltes Kreischen für die vier Boys, die nach ihrem Abi fast alle in die Staaten gehen wollen, wie sie erklären.

Derart aufgewärmt und durch Saft und Kaffee gestärkt, geht es an die Projekte: Im Ausstellungsraum stellen die Kinder und Jugendlichen ihre Projekte vor, beantworten Fragen und erzählen von Erfolgen und Krisen, von Finanzierungsplänen, von dem ewigen Ärger mit der Politik, von dem vielen Zuspruch, der ihnen Mut macht, von den ersten Berichten in der Zeitung. Oder sie träumen davon, was man machen könnte, wenn man endlich „mal ein bisschen mehr Geld“ hätte. Ein anfängliches Zögern weicht so bald einem lebhaften Austausch. Zwischendurch berichtet Wolfgang Wildfeuer, der sächsische Regionalberater von Demokratisch Handeln, dass Berlin das Bundesland mit den meisten Wettbewerbsbeiträgen sei und darauf könne man zu Recht stolz sein.

In der Ausstellung wird schnell deutlich, wie unterschiedlich die Projekte sind. Zwar verwenden viele dieselben Worte wie Demokratie, Menschenrechte oder Fairness, doch dahinter stehen ganz eigene Geschichten und Erfahrungen. Da ist zum Beispiel die Schülergruppe, die eine Fahrt zur Gedenkstätte Auschwitz unternommen hat. Am Anfang berichten sie noch nüchtern von ihrem Projekt, doch je länger sie erzählen, desto stärker erinnern sie sich an ihre Fahrt. Plötzlich stocken sie und in die Worte bricht die Erinnerung an den Besuch im Lager ein. Ein Jugendlicher sagt: „Ich kann das gar nicht beschreiben. Das sind unglaubliche Erfahrungen, die man da macht. Aber unglaublich nicht im positiven Sinne. Das ist ganz schwer auszudrücken.“ In diesem Moment merkt man die tiefen Spuren, die Auschwitz in den Jugendlichen hinterlassen hat. Oder die Schülerinnen, die das Mädchencafé Dünja vorstellen, ein Café für türkische und deutsche Schülerinnen, wo diese lesen, lernen oder einfach nur spielen können, ohne unter männlicher Beobachtung zu stehen. Auf dem Plakat steht: „Für die Welt ist Dünja ein Name, für uns ist Dünja die Welt.“

Demokratie lebt vom Austausch, sagt Wolfgang Wildfeuer und um dem auf die Sprünge zu helfen, werden im so genannten „Erfahrungsaustausch“ je drei Projekte per Zufall zuammengewürfelt, die daraufhin eine halbe Stunde miteinander Tipps oder Ideen austauschen oder Probleme diskutieren. Idealerweise wird gleich ein Kontakt geknüpft. Denn die Vernetzung der Projekte ist eines der Hauptziele einer Lernstatt. Drei Fragen werden den Projekten mit auf den Weg gegeben: Was mochte ich? Was hat mich überrascht? Was nehme ich mit? Oft sind es intensive Gespräche, die ich beobachten kann, aber bisweilen sind die Projekte doch sehr unterschiedlich, eine Verständigung ist dann nicht immer leicht.

Doch die Diskussion in Kleingruppen ist nicht die einzige Neuerung dieses Jahr. Denn außer ihr gibt es zum ersten Mal einen Wettbewerb unter den Projekten darum, welches das „am besten dargestellte Projekt“ ist. Auf Stimmzetteln können drei Projekte vorgeschlagen werden. Doch da in einer Demokratie ja eigentlich alle „Gewinner“ sind, besteht der erste Preis nicht in Geld, sondern allein in der Ehre und der Möglichkeit, sein Projekt einmal genauer vor allen anderen darzustellen. Die Ergebnisse des Wettbewerbs werden direkt nach der Begehung verkündet. Per Laptop und Beamer werden die Siegerprojekte an die Wand projiziert. Es fängt gleich mit einer Überraschung an: Es gibt nämlich vier „dritte Plätze“. Das Projekt, das die Erinnerung an die Berliner Mauer wach halten und dadurch die Teilung in Ost und West, die in den Köpfen noch immer drin ist, überwinden will ist darunter. Ebenso wie die „Lesepaten“, die Grundschülern getreu ihrem Motto „Lesen ist nicht uncool“ Geschichten vorlesen. Den zweiten Platz erreichen die „Kiez-Buddys“, die Frieden zwischen zwei verfeindeten Schulen stiften wollen. Der „Sieger“ des Wettbewerbs schließlich ist das Projekt „Kinder helfen Kindern“ der Thüringen-Oberschule, das Spenden für eine Patenschule in Afrika sammelt.

Wie spielt man einen Nazi?

Wie schon in den vergangenen Jahren gibt es auch dieses Jahr die schwierige Wahl zwischen verschiedenen Arbeitsgruppen. Ich entscheide mich schließlich für „Werte und Demokratie“, die „theoretischste“ der Gruppen. Das dachte ich zumindest am Anfang. Sie wird von einem jungen Journalisten und Kommunikationstrainer, Stephan Ozsváth, im cremefarbenen Anzug geleitet, der gerade seine Ausbildung zum Moderator abgeschlossen hat. Ich blicke mich um und stelle fest, dass wir eine interessante Gruppe sind: Azubis, ein Streetworker („ich funktioniere immer eher negativ“), eine Lehrerin, ein Student, ein Praktikant, ein weiterer Journalist, so wie ich...

Wir fangen damit an, darüber zu diskutieren, wie man überhaupt diskutieren soll. Wie wollen wir uns in einer Diskussion verhalten? Respekt, Zuhören, Ausreden lassen, Toleranz, Anerkennung werden genannt, Kritikfähigkeit und Dialog. Die Pointe: Schon in den simpelsten, kleinsten und vielleicht selbstverständlichsten Verhaltensregeln stecken große Werte. Jede Diskussion wird so zu einem „Demokratielabor“. Und schon sind wir mittendrin in einer Debatte, was denn eigentlich Werte sind. Sind sie abstrakte, bloß theoretische Dinge oder haben sie praktischen Einfluss auf mein Handeln? Und sind es eher Ziele, auf die hin ich mein Handeln ausrichte oder im Gegenteil die Grundlage, von der her mein Handeln stattfindet? Sind sie Zielscheibe oder Pfeil und Bogen? Schwierige Fragen. Es tritt die Idee auf, Werte über Konsens zu definieren: Werte wären dann, was alle richtig finden. Aber, fragt der Moderator nach, waren sich denn im Nationalsozialismus die Leute nicht darüber einig, dass es gut war, Juden zu töten? Und wenn man da anderer Ansicht war, hatte man dann falsche Werte? Uns wird klar, dass es eben „die Werte“ so nicht gibt. „Auch Rechtsextreme haben Werte, auch wenn wir sie nicht gut finden“ formuliert es ein Diskutant. Die entscheidende Frage ist also nicht: „Was sind Werte?“ Sondern: „Was ist mir wichtig? Welche Werte sind mir wichtig?“ Und all die Fragen, die damit zusammen hängen: Sind Werte auf das Ziel oder den Weg bezogen? Soll die Bundeswehr nach Afghanistan gehen und Gewalt ausüben, um Gewalt zu verhindern?

Eine spannende und anspruchsvolle Diskussion. Allein es bleibt Theorie und ist nicht alle Theorie am Ende grau? Genau deswegen gibt es in der zweiten Hälfte des Workshops Rollenspiele. Und die haben es in sich! Wir teilen uns in drei Gruppen auf. Eine Gruppe spielt ein Richterkollegium nach, das darüber entscheiden soll, ob es eine Nazidemonstration in Brandenburg geben soll. Ein schwieriger Fall: Die Antifa hat zu einer Gegendemonstration unter dem Motte „Den Nazis auf Maul!“ aufgerufen. Aus was für Gründen kann man die Nazidemonstration verbieten? Und kann die Gegendemo mit diesem Titel stattfinden? Ist das nicht Aufruf zur Gewalt? Wichtiger als die Ergebnisse sind Verlauf und Stil der Diskussion. Die werden im Anschluss ganz schnell – die Zeit eilt! - von den übrigen Workshopteilnehmerinnen diskutiert. Meine Gruppe – zwei Schüler, eine Lehrerin und ich – soll eine Familienkrise spielen: Die Eltern entdecken, dass ihre Kinder rechte Musik hören, sich die Haare kurz schneiden und Reichsflaggen in ihren Zimmern aufhängen. Und diese neuen Freunde, die sie haben. Sie beschließen, die Kinder zur Rede zu stellen. Zusammen mit der Lehrerin spiele ich eines der Kinder. Keine leichte Aufgabe: Wie denkt ein rechtsextremer Jugendlicher? Aber gerade deswegen ist es eine spannende Übung. Wir „Kinder“ stellen uns jedenfalls quer: „Was wollt ihr überhaupt von uns? Jetzt interessiert ihr euch plötzlich für uns, aber was war vorher? Was geht euch das überhaupt an? Und was denkt ihr euch eigentlich, uns hinterher zu schnüffeln? „Unsere Eltern“ halten sich anfangs noch tapfer, aber am Ende verlieren sie doch die Nerven… Kein Wunder. Das Spielen macht zwar Spaß, hinterlässt so aber auch einen bitteren Nachgeschmack. Denn es zeigt, wie schwierig die Praxis im Vergleich zur Theorie sein kann. Wie redet man mit einem Kind, mit Freund oder Freundin, wenn die sich plötzlich für Hakenkreuze interessieren?

Ist eine Ohrfeige Gewalt?

Derart atemlos geht es weiter. Wir versammeln uns im Forum der Ebert-Stiftung, wo die große „Talk-Runde“ stattfinden soll. Doch zuvor gibt es noch eine Aufführung des Theaterworkshops. In der Darbietung, die in nur zwei Stunden entwickelt und eingeübt worden ist, erleben wir parallel zwei Versionen eines durchschnittlichen Tag im Leben „ganz normaler“ Mädchen: Links sehen wir jugendliche Frauen, die in einer Kleiderfabrik in Asien arbeiten, rechts denselben Tag im Leben dreier Berliner Mädchen. Dasselbe Alter, aber zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während die Mädchen in Berlin noch schlafen, arbeiten die Mädchen in Asien schon seit Stunden. Und während die Berliner Mädchen SMS schreiben, beim Kaffee plaudern und shoppen gehen, wird in Asien wiederum gearbeitet, gearbeitet, gearbeitet. Pausen und Essen gibt’s kaum, dafür aber einen Aufseher, der strengen Blickes jeden Handgriff überwacht. Während der Aufführung wird mir klar, wie privilegiert mein Leben ist. Am anhaltenden Applaus merke ich, dass ich mit diesen Gedanken offenbar nicht der einzige bin.

„Wer von Euch hat schon mal eine gescheuert bekommen?“ Nach der Frage des Moderators ist es für einen Moment völlig ruhig. In die Pause hinein erheben sich immer mehr Hände, es melden sich Kinder und auch Erwachsene, die sich an ihre eigene Kindheit erinnern, und sogar der Moderator ist dabei. Raunen und Murmeln setzt ein. Dass es so viele sind, hätte keiner gedacht. So sind wir „schlagartig“ im Thema der Talkrunde angekommen: „Gewalt gegen Kinder“. Zwar ist diese sowohl von der Kinderrechtscharta der Vereinten Nationen wie auch seit einigen Jahren vom Grundgesetz verboten, aber die Wirklichkeit hält sich – wie wir gerade gesehen haben – offenbar nicht an die Vorschriften. Doch wo hört Erziehung auf und wo beginnt eigentlich „Gewalt“? Zählt die Ohrfeige, im Affekt gegeben, dazu? Und können Worte nicht genauso verletzen wie Schläge? Führt Gewalt zu neuer Gewalt? Was bedeutet das „Recht auf Gewaltfreiheit“? Diese und andere Fragen werden in der Diskussion besprochen. Es diskutieren der Moderator Ansa Seidenstücker vom Radio Multikulti des RBB Berlin, der Landesvorsitzende der Jusos Berlin Fabian Schmitz, der Vorstandssprecher der deutschen Jugendpresse Christian Beilborn und die Schülerinnen Kathleen Niebal und Ulrike Jacobi. Und, da die Diskussion im so genannten Fish-Bowl-Verfahren geführt wird, greift auch das Publikum ein. Denn Fish-Bowl bedeutet, dass immer zwei Stühle in der Runde frei bleiben, auf die sich spontan und für begrenzte Zeit Personen aus dem Publikum setzen können.

Ist eine Ohrfeige also Gewalt? Nein, sagt Kathleen Niebal, die früher selbst geohrfeigt wurde und heute nachvollziehen kann, wie es dazu gekommen war. Ohrfeigen ließen sich unter bestimmten Umständen rechtfertigen und außerdem bliebe ja kein bleibender Schaden zurück. Fabian Schulz von den Jusos sieht das anders. Gewalt wäre ein untaugliches Mittel, das eingesetzt würde, um Gehorsam zu erzielen. Ulrike Jacobi kritisiert die Verharmlosung der Ohrfeige: „Ich höre immer ‚Das hat noch keinen umgebracht’. Aber woher weiß man das? Jede Ohrfeige ist eine Demütigung.“ Und Demütigungen blieben sitzen und kämen irgendwann wieder hoch, das könne man täglich an den Schulen beobachten. Gewalt erzeuge neue Gewalt, eine Spirale, die, einmal etabliert, nur schwer wieder durchbrochen werden könnte. Und ein Jugendlicher aus dem Publikum ergänzt: „Dass man den Grund für eine Ohrfeige einsieht, das ist doch ein Mythos!“ Statt friedliche Wege zu lernen, wie man Konflikte lösen könnte, würde man auf Gewalt konditioniert „wie ein Tier“. Und später würde man genau so handeln, wie man das in der Familie erlebt hätte: Man würde selbst zum Schläger. Deswegen sei eine Ohrfeige auch keine Privatsache, wie Christian findet. Schließlich würden die Folgen auch alles andere als privat bleiben.

Der Jugendliche Philip aus dem Publikum findet, dass man zwischen verschiedenen Graden von Gewalt unterscheiden müsse: „Eine Ohrfeige ist doch kein Faustschlag!“ Er hätte früher auch welche bekommen, aber er wäre damals halt frech gewesen. Und wenn man eine Grenze überschreite, müsse man das halt lernen. Christian findet hingegen: „Grenzen kann man auch mit Worten aufzeigen!“ Und Syla, die als Erzieherin arbeitet, ergänzt: „Wenn eine Ohrfeige keine Gewalt ist, was denn dann? Wenn ich als Erzieherin ein Kind schlagen würde, dann wäre ich meinen Job sofort los. Und das zu Recht!“ Das sieht Kathleen genau so („Eine Erzieherin darf nie schlagen!“), aber bei den Eltern sei das doch eine andere Sache. Sie räumt ein, dass sie das vielleicht auch anders sehen würde, wäre sie früher nicht von ihrer Mutter geohrfeigt worden: „Doch die Beziehung zu meiner Mutter ist mir zu wichtig. Das ist ein Zwiespalt, den kann man nicht einfach wegdiskutieren!“ Thore kann das verstehen. Aber er glaubt auch, dass wenn man Gewalt selber erfahren hat, auch leichter welche austeilt. Und deswegen ist Gewalt gegen Kinder falsch, auch wenn die Eltern nicht unbedingt böse Menschen sein müssen. Gina aus dem Publikum ist da eindeutiger. Wütend ruft sie: „Jede Ohrfeige ist erniedrigend! Die Fragen hier sind völlig falsch gestellt. Kein Kind hat Schuld, wenn es geohrfeigt wird.“

Anette aus dem Publikum findet, es käme bei der Beurteilung einer Ohrfeige auch auf den Kontext an. „Man kann da nicht einfach ein allgemeines Gesetz machen. Bei einer guten Familie schadet auch eine Ohrfeige nicht, wenn man darüber redet und wenn die Kinder verzeihen können.“ Und außerdem dürfe man auch die verbale Gewalt nicht unterschätzen: „Manchmal können Wörter mehr weh tun als Taten.“ Fabian widerspricht: „Es geht darum, welche Form von Erziehung wir anstreben. Und die kann nur absolut gewaltfrei sein. Und statt darüber zu reden, was man danach sagt, sollten wir besser über Wege der Prävention diskutieren, damit es überhaupt nicht zu Gewalt kommt. Wie kann man deeskalieren, welche Hilfe kann der Staat geben?“ Ulrike ist da staatsskeptischer: „Ich würde nicht zur Polizei gehen, nur als letztes Mittel natürlich, dann schon. Aber vorher ist es besser, zu einer Beratungsstelle zu gehen.“ Staats- und Polizeiskeptisch ist auch ein Junge aus Lichtenberg. „Die Polizei ist doch nicht auf unserer Seite! Die schlagen doch selber zu!“ Und überhaupt findet er die Diskussion etwas weltfremd: „Ich möchte mal wissen, aus was für Familien ihr kommt. Also bei mir im Viertel ist das so. Wenn ich auf der Straße jemanden anmache, kriege ich auf die Fresse. So ist das dann. Und die Eltern will man nicht stressen, denn die haben schon genug zu tun, arbeiten den ganzen Tag und sind erst spät abends zu hause.“

Kennen die Erwachsenen überhaupt die Kinderrechte, will der Moderator wissen. Christian ist skeptisch: „Nicht mal die Kinder kenne ja ihre eigenen Rechte. Und wenn man sich anschaut, dass wir in Deutschland elf Jahre gebraucht haben, um die Kinderrechtscharta der Vereinten Nationen zu verabschieden, von 1989 bis 2000, dann ist das nicht gerade ein Aushängeschild! Elf Jahre!“ Grund zu Pessimismus also? Doch es gibt auch andere Geschichten. Eine erzählt der Moderator selbst. Er wäre ja früher auch geohrfeigt worden, bei seinem ersten Kind wäre ihm dann ganz selten auch einmal „die Hand ausgerutscht“, doch die weiteren Kinder würden gewaltfrei aufwachsen: „Die Hand bleibt in der Tasche!“ Wichtig sei es vor allem, nicht die Augen zu verschließen, sondern die Gewalt aus ihrer Verborgen- und Verschwiegenheit herauszuholen. Das wäre der erste, wichtige Schritt.

Ein Ende, das zurück zu den Anfängen führt.

Wir sind fast am Ende. Hiltrun Hütsch-Seide verabschiedet die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Lernstatt. Und kündigt das Highlight zum Abschluss an: Es gibt eine getanzte Geschichte des Breakdances, von der Gegenwart zurück bis in die Anfänge. Und so sieht man die kompliziertesten und krassesten Moves in ihre ersten Bewegungen zurückgeführt. Der Mund bleibt offen, wenn die drei Jungs – Telle, Immi, Mario – dort drehen, springen, durch die Luft wirbeln. Und als wäre das nicht genug, kriegt man zugleich auch noch die Geschichte der Breaker erzählt. Breaken, lernen wir, war immer eine Frage des Engagements. „Und deshalb, wer euch erzählt, Breaken hätte was mit Drogen oder Gewalt zu tun, dann denkt dran – das sind nicht die echten Breaker!“

(Jan Wöpking, Berlin)

Lernstatt Berlin - Bild 1

Lernstatt Berlin - Bild 2

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Veranstaltungsflyer

Bilder

Die Workshops


Von der Kommunikation zur Mediation
Wolfgang Wildfeuer, Sächsische Akademie für Lehrerfortbildung, Meißen

Wie gestalte ich eine gute Schülerzeitung?
Sebastian Schönbeck, Junge Presse Berlin

„Alle anders – alle gleich“ / Aktiv werden gegen Ausgrenzung
Tim Scholz, Kids Courage

Noch nie war sie so wertvoll...
Stephan Oszvath, Journalist und Kommunikationstrainer

“Die Freihzeit nehm’ ich mir” – Kinderrechtskonvention konkret
Clara Rienits, SDJ - Die Falken

Moderationstraining für Jugendliche - Schnupperworkshop
Thore Barfuss, Jugendbüro Steglitzn

Theaterworkshop: Kinderrechte und Kinderarbeit – global gesehen
Annette Hartmann, Theaterpädagogin

 
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