Direkt zum Inhalt springen

Sie befinden sich: Startseite » Lernstatt » 2008 »

Warum eigentlich Demokratie? Eine Lehrstunde für das Engagement vor Ort

„Ich bin glücklich, in der Freiheit zu leben. Sie wurde uns 1945 wiedergeschenkt. Und mit ihr die Demokratie“. Das sind kurze, knappe Sätze. Doch sie verfehlen ihre Wirkung nicht. Sie stammen aus berufenem Munde. Hildegard Hamm-Brücher, die große alte Dame des deutschen Liberalismus, erlebte selbst die Nazidiktatur und hat im Umfeld des Widerstand der Studentengruppe „Die Weiße Rose“ erfahren, wie menschenverachtend die Diktatur des Nationalsozialismus war. Das sind Erfahrungen, die ihr späteres politisches Engagement maßgeblich prägten. Gerade deshalb erinnert sie unermüdlich an die Zeit, in der demokratische Rechte und die Würde des Menschen hierzulande nichts galten.

Lange her, möchte man meinen. Warum also noch nach der Demokratie fragen? Ist sie nicht längst selbstverständlich geworden? Mit dieser Provokation startete Kate Maleike, die Moderatorin des Abends, in die Diskussionsrunde. Die Antworten fielen ziemlich einhellig aus. Kein Teilnehmer wollte die Demokratie missen. Doch welche Wege dringlich sind und wo die eigentlichen Nöte liegen, daran schieden sich dann doch die Geister.

Lob der Demokratie - auch ihrer Mühen und Langsamkeit

Ruprecht Polenz, Bundestagsabgeordneter aus Münster und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, erinnerte zunächst an die erst vor kurzem abgehaltene Gedenkstunde im Deutschen Parlament zum 75. Jahrestag des Ermächtigungsgesetzes. Über alle Parteigrenzen hinweg sei an diesem Tag eindrucksvoll ein demokratischer Konsens verdeutlicht worden. Winfried Nachtwei, MdB von Bündnis 90/Die Grünen, hob die Projekte der Lernstatt Demokratie als Beleg und Anschauungshilfe hervor. Sie seien ihm sichtbare Lebenszeichen für das demokratische Engagement im Lande. Auch aus internationaler Perspektive kam ein Lob für die deutsche Demokratie über die Lippen der beiden Politiker. „Wenn ich etwa 20 Jahre zurück denke oder gerade wieder im Kongo unterwegs war, dann freue ich mich, wenn ich in das Deutschland von heute zurückkehre“, so der „grüne“ Außenpolitiker Nachtwei.

Dass man beim allgemeinen und eher unverbindlichen „Süßholzraspeln“ für die Demokratie nicht stehen bleiben sollte, dafür sorgten die Beiträge von Peter Fauser und Hildegard Hamm-Brücher. Beide verwiesen auf die ihr innewohnende Brüchigkeit der so gelobten Staatsform. „Demokratie ist anstrengend“, gab Fauser zu Bedenken, „und sie ist es, weil in der Demokratie keiner machen kann und darf, was er will. Sie beruht auf die gegenseitige Anerkennung aller Beteiligten und dies auszutarieren ist nun mal nicht immer leicht. Es fordert oftmals einen ausdauernden und damit langwierigen Prozess.“ Er lerne deshalb zunehmend das Wort von Wolfgang Thierse schätzen, der gerne von der „Langsamkeit der Demokratie“ spreche.

Auch Hamm-Brücher betonte die tagtägliche Bewährung, vor der die Demokratie stehe: „Es gibt viele Defizite, die angepackt werden müssen. Sich darin als handlungsfähig zu erweisen, daran werden Politiker und Regierungen gemessen. Wenn sie das nicht hinkriegen, leidet das Ansehen der Demokratie.“

Eine Bemerkung, die das Feld zu aktuellen politischen Auseinandersetzungen und Themen hin öffnete. Es lägen große Herausforderungen vor den deutschen Politikern, mahnte Polenz und nannte dafür beispielhaft das bundesdeutsche System der Sozialen Sicherung und die Folgen des Klimawandels. Winfried Nachtwei äußerte sich besorgt über den verstärkten Extremismus von Rechts. Schulexperte Fauser hob die zunehmenden Disparitäten in der Gesellschaft hervor. Sie würden sich nicht zuletzt durch Armut und Herkunft vor allem negativ in der Bildung auswirken - ein Widerspruch in Blick auf den Anspruch der Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger in einer demokratischen Gesellschaft. Auch längere Perioden zwischen den Wahlterminen wurden angesprochen, um der Politik mehr Luft zu verschaffen für langfristig angelegte und damit nachhaltig wirkende Lösungen.

Schülerinnenpower in der Diskussion

In all dem drückten sich professionelle Statements aus, spürbar durchdacht. Doch die eigentliche Würze kam an diesem Abend erst ihn die Diskussion, als sich die Schülerinnen und Schüler ins Gespräch einmischten. Sie fragten beherzt nach: Warum gibt es keinen Mindestlohn in Deutschland? Wie erklärt sich der eklatante Einkommensunterschied zwischen einem Top Manager und einer Krankenschwester auf einer Intensivstation? Wie lässt es sich mit Hartz IV angemessen leben? Und wie können Politiker einen Beitrag leisten, für die Demokratie zu begeistern?

Nicht alle Fragen ließen sich abschließend und schon gar nicht einvernehmlich lösen. CDU-Politiker Polenz verteidigte die großen Unterschiede bei den Einkommen als basalen Bestandteil eines marktwirtschaftlichen Prozesses, der sich aus Angebot und Nachfrage ergebe. Zudem gebe es eine Autonomie der Tarifparteien, die das Lohngefüge aushandle. Provokant fragte er nach, ob man denn wirklich wolle, dass diese Fragen wieder zentral und von Staats wegen geregelt werden sollten etwa wie zu DDR-Zeiten? Hamm-Brücher hielt dem entschieden entgegen, dass das System zunehmend als krank empfunden würde, wenn mit vielen Steuer-Milliarden Banken gerettet und im Showgeschäft und Sport Unsummen verdient würden, während die Erhöhung der Renten ausbleibe oder nur spärlich ausfalle.

Für Peter Fauser artikulierte sich in dieser Diskussion die Frage nach dem rechten Verhältnis zwischen Höchst- und Niedrig-Löhnen. „Das Hundertfache? Das Tausendfache? Oder viel mehr als das?“, spitzte er die Frage zu. Er ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es dafür einer von Vernunft geprägten Antwort bedarf.

Für Demokratie begeistern vor Ort

Wie aber können Politiker für Demokratie begeistern? Durch Akzeptanz von Vorbildern wie Hamm-Brücher oder Richard von Weizsäcker, wie Ruprecht Polenz vorschlug. Oder dadurch, dass sie die jungen Schülerinnen und Schüler nach Berlin in den Bundestag einladen, wie Winfried Nachtwei meinte. Oder - eine weiterer Tenor aus dem Publikum - indem Politiker ihre Politik besser verständlich machten? Es blieb letztlich jedem selbst überlassen, darüber zu entscheiden, ob das Entfachen solcher Begeisterung an diesem Abend gelang. Einig war man sich aber in der Tatsache, dass sich die Kluft zwischen sozialem Engagement und politischer Aktivität immer mehr weitet, wie eine Studie der Robert-Bosch-Stiftung belegt. Während sich inzwischen nur noch drei Prozent der Wahlbevölkerung in Parteien organisiert, setzt sich fast die Hälfte der Bevölkerung für soziale Belange ein. In diesem bürgerschaftlichen Engagement, so Hamm-Brücher, läge auch eine gute Botschaft. Es käme darauf an, für die Demokratie vor Ort zu begeistern, und dafür würden die versammelten Projekte bei der Lernstatt Demokratie wieder einmal leuchtende Beispiele abgeben. (Berlin/Münster, Heinfried Tacke, Juni 2008)


zurück

 

19.06.2008 (MF)

 
© 2008 Demokratisch Handeln | Impressum