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Begrüßung zur feierlichen Urkundenübergabe
bei der 15. Lernstatt Demokratie
am 17. Juni 2005 in Jena

Heute ist der 17. Juni, Tag der Erinnerung an den Volksaufstand gegen die DDR vor gut fünfzig Jahren. Ein wichtiges Datum für unsere demokratische und rechtsstaatliche Identität und ein guter Tag dafür, Ihnen und Euch den Dank und die Anerkennung für die Projekte auszusprechen, mit denen Ihr hier auf der Lernstatt Demokratie vertreten seid. Diese Lernstatt steht überhaupt in einem ungewöhnlich spannungsvollen Kontext. Vor knapp einer Woche, am 11. Juni, hat sich die Stadt Jena eines groß geplanten braunen Aufmarsches erwehrt - die Stadt, das heißt nicht zuletzt und ganz besonders auch: mehrere Tausend Bürgerinnen und Bürger, jung und alt, Vereine und Einzelne. Das Problem ist noch nicht ausgestanden - die NPD hat angekündigt, Plätze und Orte für ihre Versammlung in Jena für zehn Jahre im Voraus beantragen zu wollen. Eine Herausforderung für Bürgersinn und kommunale Rechtskultur! Ich freue mich vor diesem Hintergrund ganz besonders, dass der Oberbürgermeister der Stadt Jena, Dr. Peter Röhlinger, uns heute, wie am Dienstag, die Ehre gibt und sich an der Verleihung der Urkunden beteiligen wird. Schon jetzt möchte ich mich auch dafür herzlich bedanken, dass die Stadt es möglich gemacht hat, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Lernstatt trotz der Ebbe in den öffentlichen Kassen zu einem abschließenden Empfang einzuladen. Vielen Dank!

Urkundenübergabe - Bild 02

Es ist mir sehr wichtig, als Hausherr, für die Imaginata, ein Wort hinzuzufügen: Viele der Räume, die während der Lernstatt genutzt worden sind, haben wir erst ganz knapp vor Beginn der Lernstatt, wirklich und buchstäblich in letzter Minute, fertig stellen können. Architekt und Handwerker haben Wunder vollbracht. Dieser Lernstatt war also so etwas wie eine Jungfernfahrt. Wir waren sehr gespannt und haben sehr genau beobachtet, wie das Haus von Euch angenommen wird und wie es sich bewährt. Ich kann aus voller Überzeugung sagen: Einen besseren, lebendigeren, sinnvolleren und freundlicheren Start in den neuen Abschnitt im Leben der Imaginata hätten wir uns nicht wünschen können. Auch dafür möchte ich im Namen der Mitarbeiter sehr herzlich danken.

"Wann haben Sie eigentlich angefangen zu denken, politisch zu denken?" Ich glaube, uns allen ist diese Auftakt-Frage an die drei Politiker am Dienstag Abend noch gegenwärtig. Manche im Publikum, das habe ich beobachten können, haben die Luft angehalten, manche verblüfft gelacht, wie bei einer Pointe im Kabarett. Allgemein sind im Publikum die Hälse etwas länger geworden und die Augenbrauen hochgegangen. Die drei auf dem Podium haben unterschiedlich reagiert. Frau Hamm-Brücher und Herr von Weizsäcker schienen einen Moment zu glauben, sie hätten sich verhört, aber nur kurz, Herr Althaus verhielt sich abwartend, weil er zunächst nicht angesprochen worden war.

Vermutlich haben manche diese Frage, sagen wir mal: als kess, wenn nicht gar als etwas vorlaut oder gar frech angesehen: So spricht man nicht mit einem Bundespräsidenten, auch nicht, wenn er Alt-Bundespräsident ist, überhaupt mit hochgestellten Persönlichkeiten, mit älteren Leuten, schon gar nicht mit einer großen alten Dame der deutschen Politik, die gerade Ehrendoktorin geworden ist, diesem großartigen Beispiel für demokratische Gesinnung und politische Glaubwürdigkeit.

Urkundenübergabe - Bild 06

Indessen: Die Reaktion der drei Podiumsteilnehmer hat alle Bedenken aufgehoben und war von befreiender Offenheit. Wie die drei mit diesem kleinen geistigen Überfall umgegangen sind, und wie sie die Frage beantwortet haben, das war doppelt interessant. Doppelt: erstens durch den Inhalt der Antwort selber. Zweitens, durch die Haltung, die sie dabei gezeigt haben. Alle drei haben, glaube ich, sofort gespürt, um was es hier eigentlich geht - dass hier nämlich junge Leute wissen wollen, wie sie ganz persönlich - nicht als Bundespräsident, als hoch angesehene Politikerin, als Ministerpräsident - sondern als Richard, Hildegard und Dieter, dazu gekommen sind, Politik und Demokratie als etwas zu verstehen, was zu ihrem eigenen Inneren, zu ihrem Denken, zu ihrem Selbstverständnis, zu ihrem Leben gehört. Das Demokratie etwas ist, dem sie sich stellen und zu dem sie eine Einstellung finden müssen. Dieter Althaus hat erzählt, wie wichtig es für ihn war, dass in seinem Elternhaus anders gedacht, gesprochen, geglaubt worden ist, als es der DDR-Staat in Schule und Öffentlichkeit für richtig gehalten und erklärt hat. Frau Hamm-Brücher hat berichtet, wie ihr als junger Studentin schockartig bewusst geworden ist, dass in ihrer unmittelbaren Umgebung Freunde und Bekannte gleichen Alters buchstäblich ihr Leben gegen das Hitler-Regime ins Feld geführt haben, dass ihnen die eigene Überzeugung mehr war als das Überleben. Richard von Weizsäcker hat auf den Tag genau sagen können, wann er angefangen hat, politisch zu denken - als offen und öffentlich, sozusagen vor aller Augen, das erste Unrechtsurteil durch die Nazi-Justiz gefällt worden ist. Er hat auch auf eine bemerkenswerte Weise klar ausgesprochen, worin für ihn die besondere Qualität eines solchen Denkens als einem politischen Denkens zu sehen ist: etwas zusätzlich mit einer Bewertung versehen, mit einem kritischen Urteil, mit der Frage nach Recht und Gerechtigkeit. Alle drei haben auf ihre Art deutlich werden lassen, worauf es in der Demokratie ankommt: Darauf, wach am Geschehen der eigenen Zeit teilzunehmen, sein Urteilsvermögen zu schärfen, selbst aktiv zu werden. Und sie haben das nicht nur als Lippenbekenntnis oder Geschichte aus ihrem Leben vermittelt, als Anekdote, die man gern hört. Ich finde, es war mindestens genauso wichtig mitzuerleben, mit welcher Sorgfalt und Genauigkeit sie auf die Fragen gehört haben. Damit fängt die Demokratie an. Demokratie bedeutet die Einbeziehung des anderen. Es bedeutet, verstehen zu wollen, wie der andere seine Frage meint, ehe man darauf antwortet. Es bedeutet, Interessen anderer aus deren Sicht zu betrachten, ehe man sich von ihnen abgrenzt oder gegen sie auftritt. Es bedeutet, auf gleicher Augenhöhe zu sein - da muss sich immer einer bücken und einer recken - das eine, sich recken, hat enge Grenzen, das andere, sich bücken ist oft unbequem, aber hilfreich.

Ich finde übrigens, dass gerade die beiden Alten - das meine ich als Ehrentitel -, und ich sage dies, ohne dass ich den Ministerpräsidenten damit kritisieren möchte; er ist da ja einfach biographisch im Nachteil - den ganzen Abend ein wirkliches Gespräch mit den sechs Diskutanten geführt haben - offen, mit direktem Blickkontakt und ebenso freundlicher Ermutigung wie kritischer Argumentation. Vom Schalk und Charme gar nicht erst zu reden. Und ehrlich gesagt, war ich verblüfft in der Zeitung als kritisch gemeinten Kommentar zu lesen, erstens, viele seien vielleicht nur gekommen, um die Berühmtheiten zu erleben, zweitens, es seien auf die vielen Fragen gar keine Antworten gegeben worden - aber die Leute hätten doch auf Antworten gewartet. Ich will mich dabei nicht lange aufhalten. Aber: was ist eigentlich falsch daran, die unmittelbare Begegnung mit wichtigen Persönlichkeiten unserer Zeit zu suchen? Ist das nicht im Gegenteil zu dem, was die Kritik unterstellt, etwas ganz Entscheidendes? Ich weiß schon, die Botschaft bei solchen Aussagen heißt: Es geht um Sachfragen, nicht um die Person. Ich halte dagegen: Was Sachfragen sind, was wichtig und was unwichtig ist, worauf es ankommt und worauf nicht, das fällt nicht vom Himmel, sondern wird von uns und von anderen Menschen, von Personen bestimmt und durchgesetzt. Gerade in der Politik kommen sogenannte "Sachen" überhaupt nur ins Bewusstsein der Verantwortungs-und Machtträger, wenn sie von Personen mit Interesse, Kraft, Intelligenz, Leidenschaft und Ausdauer vertreten werden. Dafür sind gerade auch die hier vertretenen Projekte der beste Beweis. Also: eine Denkfalle, Sache statt Person zu fordern. Und stimmt es vielleicht nicht, dass wir Mut zum Handeln und Zutrauen zu uns und anderen schöpfen aus der Begegnung mit Menschen, die ein Leben lang für die Demokratie geackert haben ohne ihren Mutterwitz und ihre Freude einzubüßen. Also, liebe Leute: Her mit den Hamm-Brüchers und Weizsäckers! Kritik ist klasse, das stimmt, aber Freude auch.

Das war einer der stärksten Auftakte und auch eine der gelungensten Politiker-Diskussionen, die wir bisher hatten in den fünfzehn Jahren Lernstatt. Und ich finde, diese Lernstatt in Jena hat diesen starken und schönen Anfang in ihre weitere Arbeit mit hineingenommen: es ist anregend, aufregend, offen, produktiv und fröhlich und in gutem Umgang miteinander weitergegangen. Es hat sich hier in Jena eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern aller Altersgruppen versammelt, die - das ist durch die Präsentation heute morgen und durch die Ausstellung eindrucksvoll sichtbar geworden -, zeigen, worum es bei der Demokratie "eigentlich" geht - "eigentlich": Jahresthema der Imaginata! - und warum wir diese "eigentlich" unmögliche Lebensform und Regierungsform doch wirklich für die richtige halten.

Die Träger des Förderprogramms Demokratisch Handeln und alle, die in diesem Schifflein mitrudern, Segel setzen, den Kurs überprüfen und bei Wassereinbruch schöpfen helfen - unsere Regionalberaterinnen und -berater, die Jurymitglieder, die Mitarbeiterinnen in den Ministerien in Bund und Ländern, die Kolleginnen und Kollegen in der Geschäftsstelle- sie alle sind sehr dankbar und voller Respekt angesichts der beispielgebenden Leistungen, die durch Euch und Sie hier und heute in Jena repräsentiert werden. Wir alle möchten Euch und Ihnen durch die Einladung zur Lernstatt Demokratie, durch die kulturellen, fachlichen Angebote dieser Tage, durch die Chance zu Begegnung und Austausch, zum Kennenlernen anderer Menschen, die sich mit ähnlichen Problemen und Hindernissen herumschlagen -, wir möchten dadurch als Bürgerinnen und Bürger Ihnen und Euch, unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, unsere Anerkennung zollen und sagen: das finden wir gut, richtungsweisend, interessant, was ihr macht, das dient und nützt der Demokratie, davon sollen andere etwas erfahren. Und diese Anerkennung möchten wir heute durch die feierliche Urkundenübergabe auch in einer Form zum Ausdruck bringen, die uns alle aus dem Alltag etwas herausholt, ein wenig vom normalen Ackerboden abheben lässt, nicht zu weit, so, dass man ungefährdet wieder herunterkommen kann und sich doch ein gewisses herrliches Fluggefühl einstellt.

Wie lernt man Demokratie, wie entsteht demokratisches Grundvertrauen? Auch das war eine Frage am Dienstag. Was haben wir erfahren? Nimmt man die Antworten von Hildegard Hamm-Brücher und Richard von Weizsäcker zusammen, dann hat man einen Schlüssel zu dieser pädagogischen Grundaufgabe in der Hand. Die Antworten: Hildegard Hamm-Brücher hat gesagt: "Es war die Befreiung von der Angst." Richard von Weizsäcker hat herausgehoben, wie wichtig für ihn, ich möchte sagen, orientierendes Weltwissen, eigenes Denken und vor allem, die Begegnung mit anderen, mit demokratischen Kulturen gewesen ist. Ihre Generation, die der Weizsäckers und Hamm-Brüchers, hat durch eine entsetzliche historische Erfahrung, die Erfahrung von Unterdrückung, Massenmord, Verfolgung, Krieg, vermutlich eine ganz eigene Überzeugungstiefe und Gesinnungsstärke entwickeln müssen und können. Es wäre aber ganz verhängnisvoll, daraus den Schluss zu ziehen, es könne keiner Demokrat und keine Demokratin werden, wer nicht Unfreiheit erlebt hat. Wir wollen und müssen unsere Demokratie weiter aufbauen, ohne sie zu gefährden. Was wir dafür brauchen? Die Erfahrung, dass wir von anderen anerkannt werden und andere anzuerkennen im Stande sind. Die Erfahrung, dass gemeinsames Handeln und die Zugehörigkeit zu einer demokratischen Gemeinschaft von der Angst befreit, allein zu stehen und nicht geschützt zu sein. Die Erfahrung, dass Handeln möglich ist, dass Einmischen gut ist, dass Zusammenwirken stark macht und dass Denken hilft. Ich glaube, dass es diese Qualitäten sind, die den demokratischen wie den pädagogischen Wert der Projekte ausmachen, die hier versammelt sind. Es sind Qualitäten, denen zivile Tugenden entsprechen, auf die es in der Demokratie ankommt: Mut, achtungsvolle Gegenseitigkeit, kritische Wachsamkeit auch gegenüber dem eigenen Denken und Urteilen, nachhaltiges Engagement, Lernfähigkeit, Verantwortung.

Ich möchte Sie und Euch alle sehr herzlich beglückwünschen zu den gelungenen Projekten und zu dieser 15. Lernstatt Demokratie!

 
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