Freitag, 27. Juni

"Heißer Stuhl" - Ein Politikergespräch

Leipzig ist schön, der Abend auch und noch dazu ist es der letzte der Lernstatt. Aus den vielen frei gebliebenen Plätzen schließe ich, dass zwei Stunden Politdiskussion da nicht mithalten können. Doch vielleicht irren sich die Ferngebliebenen ja? Anders gefragt: Gibt's hier heute abend etwas zum Verpassen? Es gibt!

Es gibt einen selten gut vorbereiteten Moderator, der gewitzte Fragen stellt. Es gibt zwei junge Politiker, die offenbar keine Lust haben, sich parteipolitisch zu streiten, sondern in unüblicher Weise miteinander Sachfragen und ihre Wege zur Politik besprechen. Und es gibt eine Diskussion jenseits des Wahlkampfstils.
Der Anfang allein ist ungewöhnlich: Damit, dass sich die beiden Politiker gegenseitig vorstellen. Wir erfahren, dass Jens Crueger erst 19 Jahre alt ist und für die GRÜNEN in der Bremer Bürgerschaft sitzt. Sein Abi hat er nebenbei gemacht, denn zur fraglichen Zeit war gerade Wahlkampf. Er hat keinen Führerschein. An diesem Abend trägt er ein Hemd und wirkt etwas nervös. Christian Carius dagegen hat einen Führerschein und ein Auto auch (einen Ford Mondeo), außerdem ist er verheiratet und hat ein Kind. Seit 1999 ist er Landtagsabgeordneter in Thüringen für die CDU. Er ist 26 Jahre alt, wirkt eine Spur weniger nervös und trägt ein Jackett.

Wieviel Kontakt hat die Politik noch zur Wirklichkeit und wieviel die Wirklichkeit zur Politik? Wissen die Menschen nicht zu wenig über Politik? Es komme darauf an, meinen die Politiker. Viel wichtiger als das Auswendigwissen der Parteiprogramme sei doch die persönliche Verbindung zur Politik. Politiker vor Ort treffen, mit ihnen diskutieren, Jugendparlamente aufbauen. Parteien seien Wertegemeinschaften, betont Carius und erzählt, wie er in die Politik gekommen ist: An seiner Schule wären alle "links" gewesen und er habe die christliche Wertorientierung vermisst. Und für Jens Crueger ist es wichtig, keine Angst vor der Begegnung mit Menschen zu haben: "Man darf nicht nur in Gremien sitzen."

Brauchen wir eine neue Moral? Nein, erwidert Carius, wir hätten doch bereits eine gute, wir müssten uns nur auf die vermeintlich "alten" Werte rückbesinnen, z.B. auf Eigenverantwortung oder Tatkraft. Der Moderator bemerkt, für ihn gäbe es zwei gesellschaftliche Gruppen, die sich vorbildhaft verhalten sollten, nämlich: Politiker und Pädagogen. Crueger gibt zu, dass Politiker diesem Vorbildanspruch aus "Eigeninteresse" nicht gerecht würden. Haben beide persönliche Vorbilder? Crueger und Carius verneinen. Sie würden sich eher an Ideen oder an Gleichgesinnten orientieren.

Was muss mit der Schule geschehen, damit sich die Bildungssituation in Deutschland wieder verbessert? Hier entbrennt ein kleiner Streit zwischen den Jungpolitikern. Carius plädiert für ein dreigliedriges Schulsystem, denn leistungsbezogene Selektion sei sinnvoll. Die Durchlässigkeit in beide Richtungen sei kein Problem. Überhaupt bleibe nicht viel Spielraum für bildungspolische Visionen, "man muss schauen, was man sich leisten kann." Doch unsere Großeltern wären auch vierzig Schüler in einer Klasse gewesen und wären trotzdem gebildet. Crueger hingegen fordert, sich von dem Bildungsdenken der "50er und 60er Jahre" freizumachen. Er wünscht sich eine Ganztagsschule, die mehr sei als nur ein "Aufbewahrungsort". Die Schülerinnen und Schüler sollten möglichst lange gemeinsam unterrichtet würden und man dürfe nicht versuchen, ein "Lineal an die Schüler anzulegen." Selektion sei da ein untaugliches Mittel. Bayern habe bei der PISA-Studie zwar am besten abgeschnitten, aber nicht weil, sondern obwohl es ein selektives Schulsystem betreibe.

Höhepunkte der anschließenden Diskussion sind die Wortmeldungen von Hildegard Hamm-Brücher. Da geht es plötzlich um große Themen: Das Versagen des Bürgertums in der Weimarer Republik, die Wichtigkeit von Vorbildern in der Politik, die Person von Theodor Heuss. Und wenn man ihren Worten zuhört, dann gewinnt man die Ahnung, dass es in der Politik noch wichtigere Dinge gibt als die Frage nach der Höhe des Spitzensteuersatzes. Die Frage nach dem Antisemitismus zum Beispiel, den sie hinter dem Medienrummel um Michel Friedmanns angeblichen Drogenkonsum vermutet. Man müsse ganz genau hinsehen, fordert Hamm-Brücher. In einer Demokratie käme es nicht auf die Radikalen und Extremisten an, sondern auf die "Wegseher": "Wenn niemand wegsieht, dann bleibt die Demokratie erhalten!"

 
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