Demokratie leben, Demokratie lernen

Vor diesem Hintergrund knüpft sich an das Programm die Erwartung, dass demokratische Lebens- und Lernverhältnisse gewaltpräventiv wirken hat und eine proaktive Einstellung zum politischen Engagement fördern. Diese Erwartung stützt sich auf einen grundlegenden und empirisch nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Demokratieerfahrung und Gewaltverzicht: Wenn Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen, dass in Schule und Erziehung Mitwirkung, demokratisches Handeln und Verantwortungsübernahme als wichtig anerkannt werden, sind sie für Gewalt und Rechtsextremismus weniger anfällig als Jugendliche, denen diese Erfahrung versagt bleibt. Die Erfahrung demokratische Handelns bildet emotional und kognitiv eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Alternativen zur Gewalt wahrgenommen werden. Es ist also - individuell wie gesellschaftlich - von Lernprozessen abhängig, ob wir uns für Demokratie und gegen Gewalt entscheiden und entsprechend handeln. Aber was heißt das, wenn wir sagen, Demokratie müsse "gelernt" werden?
Die Bedeutung von "Lernen" ist komplex, sie umfasst eine "extrem große, heterogene Klasse erfahrungsabhängiger Verhaltensänderungen ... die auf verschiedene psychologische Mechanismen verweisen" (Weinert 2001a). Was wird in der Expertise unter Lernen verstanden? Maßgeblich ist der Bezug auf "Kompetenz": "demokratische Handlungskompetenz" wird als Bildungsziel bestimmt. Für die Bedeutung von "Kompetenz" kommt es vor allem auf vier Bezüge an.

  • (1) Kompetenzen sind, so Weinert aufgrund einer umfassenden Analyse des Forschungsstandes (2001b, S. 27f.) "die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können." Domänenspezifisch, also im Blick auf Demokratie, könnte man die hier immer geringer wird gemeinte Handlungsdisposition mit dem bezeichnen, was in anderer Tradition bürgerschaftliche oder demokratische Mündigkeit heißt. Durch das Konstrukt "Kompetenz" lässt sich also, das ist der erste wichtige Aspekt, die Idee des "Demokraten" in ein lernpsychologisch untermauertes und damit auch für Evaluation des Programms (S. 81ff.) empirisch operationalisierbares Konstrukt übersetzen.
  • (2) Der Begriff der Handlungskompetenz nimmt die aus dem Pragmatismus (John Dewey) stammende Konzeption eines erfahrungsgeleiteten und Erfahrung vermittelnden Lernens auf, das seit etwa 1980 in Schulentwicklungsprogrammen wie "Praktisches Lernen", "Demokratisch Handeln" und allgemein in der Didaktik wiederentdeckt und fortentwickelt worden ist.
  • (3) Im Kontext der Schulleistungsvergleiche (PISA, TIMSS) und der Diskussion über Standards (Klieme u.a. 2003) meint "Kompetenz" vor allem die Fähigkeit zu situiertem Denken, zum Modellieren praktischer Aufgaben im Sinne domänenspezifischer Problemformulierungen. Bei solchen Modellierungen muss zwischen Handeln und Erfahrung einerseits, Begriffen oder Algorithmen andererseits durch die Bildung eigener Vorstellungen konstruktiv vermittelt werden. Beim Verstehen von Texten beispielsweise kommt es darauf an, das Gelesene in ein "Situationsmodell" zu übersetzen. Solche Situationsmodelle synthetisieren eigene Erfahrungen mit dem Text zu neuen Vorstellungen, die das Gemeinte repräsentieren.
  • (4) Gerade für Demokratie lernen ist das Modellieren von Zusammenhängen unerlässlich, geht es doch darum, für die Regelung gemeinsamer Angelegenheiten Modellierungen zu entwickeln, die sich deskriptiv wie antizipatorisch als "Situationsmodelle" öffentlich vermitteln lassen und Mehrheitenfinden. - Ein solches Lernen nennen wir "verständnisintensiv". Seine Bedeutung lässt sich idealtypisch in einem Modell bündeln,bei dem Handeln und Erfahrung, Vorstellungsbildung, Begreifen und Metakognition zusammenspielen (Fauser 2002; 2003).

« vorherige Seite | nächste Seite »

© 2004 Demokratisch Handeln | Impressum