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"Warum eigentlich Demokratie?" - Politische Gespräche


„Demokratie muss wachsen und gedeihen dürfen“, nehmen wir Frau Dr. Hildegard Hamm-Brüchers Schlusswort als Anfang, drückt es doch das Ziel und Motto aller Teilnehmer der Diskussionsrunde aus. Demokratie ist von großer Bedeutung, auch ohne es im Alltag immer zu merken, so leitet Moderatorin Kate Maleike von der Redaktion „Pisa-Plus/Campus und Karriere“ die Diskussion ein. Jemand, den die Politik und das demokratische Engagement für eine bessere Gesellschaft jahrzehntelang begleitet haben, ist Hildegard Hamm-Brücher. Ihr Hauptziel ist es, die Werte des Grundgesetzes, die Bedeutung der Demokratie und die Glaubwürdigkeit von Politik zu vermitteln und umzusetzen. Gerade diese Glaubwürdigkeit sieht sie in Gefahr. Auf den zeitgleich zur „Lernstatt Demokratie“ stattfindenden G8-Gipfel in Heiligendamm angesprochen, äußert die „Grande Dame der deutschen Politik“ starke Bedenken, denen zufolge Politik in dieser Form zu einer reinen Schau-Veranstaltung degenerieren könne.

„Erfahrung“ spricht mit „politischem Nachwuchs“

Der zweite Teilnehmer des politischen Gesprächs ist Jens Crueger. Der erst 23jährige ist in der Bremer Bürgerschaft unter der Flagge der GRÜNEN aktiv. Durch eine Bürgerinitiative in das politische Geschehen in seiner Heimatstadt hereingerutscht, bekennt er sich heute dazu, fast „politiksüchtig“ zu sein. Der Dritte im Bunde ist Carsten Schneider, haushaltspolitischer Sprecher der SPD im Bundestag. Der Erfurter, Jahrgang 1976, war vor 1998 als zweiundzwanzigjähriger und „jüngster“ MdB in den Bundestag gewählt worden. Er trifft mit seinem Kommentar „Ich hasse lange Sitzungen“ sofort den Nerv des Publikums, liegt doch ein Grund für Politikmüdigkeit darin, schier endlose Debatten und kaum greifbare Ergebnisse als Wesenszug des Politischen in der Demokratie auszumachen. Dabei aber soll es im Verlaufe des Abends nicht stehen bleiben – das wäre doch zu billig!

Diskussion heißt nun  auch Meinungsaustausch – gegebenenfalls mit dem Publikum! Widerstand gegen Kate Maleike freundlich-fordende Wortübergabe per Mikrofon scheint zwecklos. Die Botschaft ist klar: Nicht nur meinen und am kleinen Tischchen schimpfen, sondern die Gesprächsgelegenheit nutzen, darum soll es gehen: Mitmachen im öffentlichen Diskurs mit den Politikern, die auf dem Podium sitzen. Mit sicherer Ausstrahlung und professionellem Gestus integriert Frau Maleike die Zuhörer ins Geschehen integriert. Als erstes muss Sebastian aus Bremen ran: Demokratie bedeutet für ihn, seine Meinung „frei äußern zu dürfen, und sich von niemandem, schon gar nicht von der Politik Steine in den Weg legen zu lassen“. Jens Crüger nimmt diesen Faden direkt auf: „Es haben nicht alle in Deutschland die gleichen Chancen, darum ist es wichtig, wenigstens alle gleich mit ein zu beziehen.“

Die Erfahrung totalitärer Systemverhältnisse – Startpunkt für Demokratie?

Hildegard Hamm-Brücher und Carsten Schneider verbindet vor allem eines: die Erfahrung in einem totalitären, wenn auch nicht vergleichbarem Regime gelebt zu haben. Für beide bedeutete das Leben unter der Nazidiktatur beziehungsweise in der DDR eine starke Politisierung – wobei sie eine Gleichsetzung dieser undemokratischen Systemverhältnisse ausdrücklich verneinen. Hildegard Hamm-Brücher hat den Tag, an dem sie begann sich politisch zu engagieren genau auf den 8. Mai 1945 datiert: „Ich war von der Chance gefesselt etwas verändern zu können, denn so viel Unrecht wollten wir nie wieder“. Auch für Carsten Schneider ließen die Repressionen in der DDR-Zeit nur einen Schluss zu: „Die Demokratie ist die beste Staatsform – Ich will, dass sie bleibt!“ Mit dieser Parole geht es weiter zu Jens Crueger, der den klassischen Weg eines Grünen ging: Aus einer kommunalen Bürgerinitiative für den Erhalt der Natur entwickelte sich die Lust auf Politik und Partizipation, am liebsten mit Gleichaltrigen. Imponiert davon zeigt sich Hildegard Hamm-Brücher, die in 54 Jahren Parteilleben schon vielen Politikern begegnet ist: „Das sind die echten Demokraten, die über Missstände in die Politik kommen, nicht über die Karriereleiter“.

Gewissensfreiheit oder Faktionszwang? Moral oder Effizienz?

Zum ersten echten Konflikt kommt es bei dem Thema Fraktionszwang. Die Grundlage lieferte Hildegard Hamm-Brücher, indem sie sie den 38. Artikel des Grundgesetztes, dem folgend die Abgeordneten nicht als Parteifunktionäre, sondern als Volksvertreter, die einzig ihrem Gewissen unterworfen sind, festgelegt wird. „Gegen diesen fundamentalen Grundgesetz-Artikel wird seit Jahrzehnten ständig verstoßen“, so Hamm-Brücher, derzufolge nicht die Moralität des Einzelnen, sondern die Regulative der Organisation parlamentarischer Macht im Vordergrund stehen. Das entfacht denn doch einen heftiger Protest bei Carsten Schneider, der nicht an ein konstruktives Regieren ohne Parteien und die Solidarität zu jenen glaubt. Er betont die Notwendigkeit, effektiv zu handeln in Fraktionen und Parlament, „denn gerade wenn wir nicht zu Entscheidungen kommen, wird das der Demokratie vorgeworfen“, so Schneider. Am Ende steht die Erkenntnis, das zwar wie Hamm-Brücher betont „viel Missbrauch getrieben und viel manipuliert wird“, aber einiges auch „ohne Spielregeln nicht funktioniert“, so Jens Crueger. Man war um Vermittlung bemüht – und dennoch war die biographische Differenz – insbesondere in der Erfahrung und der Wertung moralischer Imperative – an dieser Stelle unübersehbar.

Wenig Vertrauen in die Politik, und nur 39% der Jugendlichen, die sich überhaupt für Politik interessieren – diese erschreckenden Zahlen eröffnen die nächste Runde in der Debatte. Ist Politik vielleicht einfach nicht „sexy genug für die von Dauermedienpräsenz  und Reizüberflutung geprägte Jugend?“ fragt Frau Maleike, indem sie einige neudeutsche Medien-Worte aufnimmt: „Was können Politiker tun, um der Politikverdrossenheit Herr zu werden?“ Carsten Schneider hat hierzu einen klaren Standpunkt: „Politik ist keine Marketing-Veranstaltung“. Er räumt zwar ein, dass es oft nicht so viele Schnittpunkte gibt und erkennt einen weiteren Grund darin, dass es in der jüngeren Geschichte wenig derartig politisierende Ereignisse wie einen Weltkrieg oder die Wende gegeben hat, von denen eine solche Wirkung ausgeht, dass sie Jugendliche in die Politik zieht. Kate Maleike bringt diese Aussage mit der provokanten Frage „keine Demokratie ohne Debakel?“ treffend auf den Punkt.

Das kann Hildegard Hamm-Brüchers im Blick auf ihre politische Erfahrung natürlich nicht so stehen lassen. Das Ansehen des Parlaments verbessern, das müsste es sein: „Keine Bestechlichkeit, lebendigere Diskurse – eben eine grundlegende Reform parlamentarischer Praxis weg vom Funktionärswesen und hin zu einer Politik des Gesprächs und begründeter Auseinandersetzung „, da liegt ihr Credo und ihr jahrelanges – wie sie sagt „fast vergebliches“ – Engagement für einen neuen flexibleren und ernsthaften Umgang mit dem Parlament als gesetzgebender Instanz.

Auf die Jugend zugehen und „immer präsent sein“

„Immer präsent sein“, so lautet das Rezept von Carsten Schneider. Wortmeldungen gibt es genug an diesem Abend, gerade zu dem Thema Jugend und Politik. „Jugendorganisationen reißen sich um Mitarbeiter“, bemerkt Leonie Kusch aus Hamburg. „Die Politik muss die Jugendlichen abholen, einen Schritt auf sie zugehen“, findet auch Jens Crueger, der in Bremen auch als kinder- und jugendpolitischer Sprecher seiner Partei arbeitet. Auf die soziale Umgebung zugeschnittene Projekte findet er neben solider Sacharbeit unverzichtlich. Das Publikum gibt ihm recht, „es darf nicht sein, dass Jugendliche von der Politik ,abgemeiert’ werden“, war zu hören. Das Publikum gibt sich vielfältig in der Suche nach Ursachen und Lösungen für das Problem. Immer noch steht die Frage „Was ist zu tun, um Jugendliche an die Politik ranzulassen“ im Raum. Hildegard Hamm-Brücher antwortet souverän-charmant, dass es schlicht und einfach „mehr Jugendliche von denen, die vor uns sitzen“ geben müsse, es sind ja schließlich Jugendliche da, die sich engagieren wollen. Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen ist nur ein Hauptaspekt.

Projekte? Mehr davon!                      

Kate Maleike stößt mit der Frage, wie Politik besser und erlebbarer werden kann ein reges Wortgefecht an. Für Schüler aus Berlin wäre mehr Medienpräsenz von Projekten wie den hiesigen sehr wünschenswert. Von hier aus geht es dann auch direkt in die Schule, so erzählt Carsten Schneider von dem positiven Einfluss, den einst ein Lehrer auf ihn hatte. Auch Jens Crueger kann die Wichtigkeit von guten Politiklehrern, von denen es viel zu wenige gebe, bestätigen – ebenso aber auch das Uneffektive eines bisweilen eben formalen und dürftigen Institutionen-Lehrens im Politikunterricht. Gegen Ende der Gesprächsrunde herrscht noch einmal Einigkeit unter den Teilnehmern: Ein gemeinsamer Feind verbindet und den haben sie in der „Nicht-gelebten“ Demokratie ausgemacht.

(11.06.07, Katharina Dellbrügger, Soest)

 

12.06.2006 (MF)

 
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